Wettbewerbsthema 2022 – Randzonen

11. Januar 2021

An den Rändern entwickelt sich, was später in den Zentren zum Mass der Dinge wird. Das gilt nicht nur für das Silicon Valley, wo die Computerindustrie ihren Anfang nahm. Sondern auch für die Megatrends in der Gastronomie.

Die französische Nouvelle Cuisine beispielsweise entstand nicht in der hochdekorierten Haute Cuisine von Paris. Sondern als Gegenentwurf dazu in kleinen Restaurants vor allem in und um Lyon.

Die Molekularküche, die in den 1990er-Jahren ihren Siegeszug um die Welt antrat, wurde in katalanischen und baskischen Provinzküchen ausgetüftelt, fernab der grossbürgerlichen Gourmettempel von Barcelona oder Madrid.

Das Manifest von René Redzepi (Noma, Kopenhagen) für eine neue, regionale und nachhaltige Nordic Kitchen wurde zum ersten Mal 2004 auf einem kleinen, alternativen Food-Festival in Kopenhagen vorgestellt, bevor es die Metropolen dieser Welt eroberte und bis heute eine ganze Generation von aufstrebenden Jungköchen beeinflusst.

Was das nächste grosse Ding wird, wissen wir (noch) nicht. Aber es wird mit grosser Wahrscheinlichkeit wieder von den Rändern her ins Zentrum drängen. Ein Grund mehr, dass der marmite youngster 2022 seinen Blick auf Randzonen richtet.

Kulturelle Zwischenräume

Randzonen weden gerne übersehen, weil ihre Konturen unscharf sind. Bei genauem Betrachten zeigen sich hier jedoch beispielhafte Übergänge, die unser Dasein und unseren Alltag massgeblich beeinflussen können.

Länder- und Sprachgrenzen sind gute Beispiele dafür, weil uns Grenzregionen oder auch zweisprachige Gebiete (wie z. B. Teile des Kantons Freiburg oder die Region Biel) von unseren Nachbarn und Mitbürgern trennen, aber gleichzeitig auch untereinander verbinden. Denn die Menschen, die hier leben, müssen und wollen sich trotzdem austauschen und entwickeln deshalb ganz eigene (auch kulinarische) Wege, um dies über alle Grenzen hinweg zu tun.

Auch die Voralpen sind ein solches Zwischending. Hier fliessen die Gegensatzpaare Berg und Tal respektive Ober- und Unterland nahtlos ineinander und kreieren eine ganz eigene, diffuse Befindlichkeit, welche den Lauf der Dinge und natürlich auch die lokale Küche mitbestimmt.

Ähnlich verschwommen ist die Agglomeration, also praktisch das gesamte Schweizer Mittelland. Dieses bildet einen eigenständigen, aber auch eigentümlichen Zwischenraum, in dem es sich noch einmal anders lebt und isst als auf dem Land oder in unseren (wenigen) grossen Städten.

Und in den Städten wiederum gibt es sehr viele Randzonen, nämlich die einzelnen Stadtquartiere, die sich im Lauf der Zeit komplett unterschiedlich entwickelt haben und auch ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen anziehen (man vergleiche nur einmal das Zürcher Langstrassenquartier mit dem Zürichberg oder Schwamendingen).

Geografische Ränder

Auch in geografischer Hinsicht gibt es gute Beispiele für spannende Randzonen: Zum Beispiel Ufer-, Riet- und Moorlandschaften, wo sich die Elemente Wasser, Erde und Luft verbinden und diese Verschmelzung eine ganz besondere Fauna und Flora hervorgebracht hat.

Auch Waldränder und Lichtungen gehören dazu, wo der Ackerbau in die Forstwirtschaft übergeht, hoch oben am Himmel der Milan, der Bussard und der Habicht ihre Kreise drehen und das Wild unten im lichten Gehölz auf den Jäger trifft.

Und nicht zu vergessen sind klimatische Barrieren wie die hochalpine Wald- und Baumgrenze, wo das Reich der Gemsen, Steinböcke und Steinadler beginnt und trotz der extremen Kargheit bei genauer Betrachtung viele weitere tierische und pflanzliche Bewohner angetroffen werden können.

Innere Brüche

Neben diesen räumlich klar eingrenzbaren Zonen gibt es auch Randzonen in uns selbst: Der innere Widerstreit um unterschiedliche Werte und Wertvorstellungen zum Beispiel, die von unserer Familie und unserer Umwelt an uns gestellt werden. Oder die Überwindung von sozialen Schranken, die uns zwar unsichtbar, aber deshalb nicht weniger eingrenzend umgeben.

Beim «Secondo» René Redzepi führte dies zu einem überaus kreativen und schliesslich auch wirtschaftlich erfolgreichen Spannungsfeld zwischen seiner albanischen Herkunft, seinem Ehrgeiz, als Koch in seiner neuen Heimat Dänemark zu reüssieren, und seinem Wunsch, die ganze Welt über Food nachhaltig zu verändern und zu verbessern.

Und wie sieht das bei uns aus, was sind die Faktoren, die unsere eigene kulinarische Identität ausmachen? Sehen wir uns als Teil einer globalen gastronomischen Bewegung oder ist das vielmehr eine höchstpersönliche Angelegenheit, die von unserer individuellen Entwicklung geprägt ist?

Das sind schwierige Fragen, zugegeben. Aber jeder trägt sie in sich. Und jeder, da sind wir sicher, hat seine eigenen Antworten darauf.

Die Aufgabe

Die Kandidaten des diesjährigen marmite youngster sind deshalb aufgefordert, hinauszugehen an ihre äusseren und inneren Grenzen und dort genau hinzuschauen. Mit dem Auftrag, eine für sie wichtige oder typische Randzone in einem eigenständigen Tellergericht oder einer stimmigen Tischdekoration einzufangen und darzustellen.

Vielleicht ganz in der Tradition des jungen peruanischen Spitzenkochs Virgilio Martínez (Restaurant Central, Lima; Nr. 6 The World’s 50 best Restaurants 2019), der sich einst auf die Suche nach der kulinarischen Identität seiner Heimat Peru gemacht hat. Gefunden hat er schliesslich nicht bloss eine, sondern ganz viele kulinarische Identitäten. Und weil sie alle Teil von ihm waren, hat er sie seinen Gästen in einem über 20-gängigen Menü aufgetischt (uns reicht ein Gang bzw. eine Tischdekoration ;-).